An diesem Schicksalstag, dem 6. August 1945, war ich 13 Jahre alt und arbeitete im Rahmen eines Schülereinsatzes im Hauptquartier der japanischen Armee in Hiroshima, 1,8 Kilometer vom Zentrum der Bombardierung entfernt. Zusammen mit 30 anderen Schüler*innen war ich damit beschäftigt, Nachrichten zu entschlüsseln. Um viertel nach acht, als Major Yanai aufmunternde Worte zu unserer Gruppe sprach, sah ich aus dem Fenster einen blauweißen Blitz – und ich erinnere mich an das Gefühl, in der Luft zu schweben. Als ich zu mir kam, war es still und dunkel. Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen – ich wusste, dass ich dem Tod ins Auge sah. Ich hörte das Jammern meiner MitschülerInnen: „Mutter, hilf mir!“ – „Gott, hilf mir!“. Da spürte ich Hände an meiner linken Schulter. Eine Männerstimme sagte: „Gib nicht auf – beweg Dich weiter! Ich versuch Dich hier raus zu kriegen. Kriech auf das Licht aus der Öffnung da oben zu – schnell!“ Als ich es geschafft hatte, standen die Trümmer schon in Flammen. Die meisten meiner Mitschüler*innen sind bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein Soldat zeigte mir und zwei anderen Mädchen einen Fluchtweg in die nahegelegenen Hügel.
Ich schaute mich um. Obwohl es Morgen war, war es dämmerig-dunkel, weil Staub und Rauch in die Luft aufstiegen. Geisterhafte Gestalten strömten vorbei, aus dem Stadtzentrum trotteten sie in Richtung der nahegelegen Hügel. „Geisterhaft“ sage ich, weil sie nicht wie Menschen aussahen. Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch. Wir schlossen uns der gespenstischen Prozession an, vorsichtig stiegen wir über die Toten und Sterbenden. Im tödlichen Schweigen hörte man nur das Stöhnen der Verletzten und ihr Flehen nach Wasser. Der Gestank verbrannter Haut erfüllte die Luft. Wir schafften es, zum Fuß des Hügels zu entkommen, wo sich ein Truppenübungsplatz befand, so groß wie zwei Fußballfelder. Er war mit Toten und Verletzten überfüllt – die Verletzten bettelten nach Wasser, in schwachem Flüsterton. Wir hatten aber nichts, um Wasser zu transportieren. Wir gingen an den nahen Fluss, um Blut und Dreck von unseren Körpern zu waschen. Dann rissen wir unsere Kittel herunter, durchnässten sie und rannten damit zu den Verletzen, die verzweifelt die Nässe heraussaugten. Den ganzen Tag sahen wir keine Ärzt*innen oder Krankenpfleger*innen. Als es dunkel wurde, saßen wir am Abhang und beobachteten die Stadt, die die ganze Nacht brannte – benommen von der Massivität des Leids und des Sterbens, deren Zeugen wir geworden waren.
Mein Vater hatte die Stadt an diesem Tag früh verlassen. Meine Mutter wurde aus den Trümmern unseres Hauses geborgen. Meine Schwester und ihr vierjähriger Sohn wurden zur Unkenntlichkeit verbrannt, als sie auf dem Weg zum Arzt waren. Eine Tante und zwei Cousins wurden nur noch als Skelette gefunden und meine Schwägerin gilt noch heute als vermisst. Wir waren froh, dass mein Onkel und seine Frau überlebten, doch zehn Tage später starben sie. Ihre Körper waren voller pinker Flecken und ihre inneren Organe schienen sich verflüssigt zu haben. 800 meiner Altersgenoss*innen aus der siebten und achten Klasse sollten im Stadtzentrum Feuerschneisen anlegen. Viele von ihnen verbrannten sofort: Die Brände hatten Temperaturen um 4.000 Grad Celsius, und der Körper verkohlte oder verdampfte einfach. Die Verstrahlung, die es so nur bei einer Atombombe gibt, befiel die Menschen auf seltsame, willkürliche Art und Weise. Manche starben sofort, andere nach Wochen, Monaten oder Jahren an den Spätfolgen. Auch heute, 69 Jahre später, sterben noch Menschen an der Strahlung.
So verwandelte sich das geliebte Hiroshima in einen Ort der Verzweiflung, überall Berge von Asche und Schrott, Skeletten und schwarzen Kadavern. Die 360.000 Bewohner*innen, zum größten Teil Frauen, Kinder und ältere Menschen, wurden Opfer des willkürlichen Bombenmassakers. Ende 1945 waren schon etwa 140.000 Menschen tot. Bis heute sind allein in Hiroshima mehr als 260.000 an den Folgen der Explosion, der Hitze und der Strahlung gestorben. Es tut mir sehr weh, diese Zahlen zu nennen. Die Toten auf Zahlen zu reduzieren, erscheint mir wie eine Entwertung ihres kostbaren Lebens, eine Verneinung ihrer Würde.
Die Menschen mussten die körperliche Zerstörung durch das Hungern ertragen, die Obdachlosigkeit, die mangelnde medizinische Versorgung, die Diskriminierung der Opfer, die man als „Atomgiftverseuchte“ bezeichnete, das tatenlose Zuschauen der japanischen Regierung, den Kollaps des autoritären Gesellschaftssystems und die plötzliche Einführung eines demokratischen Lebensstils. Schlimm litten sie auch unter der psychosozialen Kontrolle der alliierten Besatzungsbehörden nach Japans Niederlage. Die Behörden zensierten die Medienberichte über das Leid der Überlebenden und konfiszierten ihre Tagebücher, Aufzeichnungen, Filme, Fotos und Krankenakten. Nach dem massiven Trauma der Bombardierung mussten sich die Überlebenden jetzt in Schweigen und Selbstzensur üben – damit war ihnen die Möglichkeit genommen, zu trauern und das Geschehene zu verarbeiten.
Nach dem Ende der siebenjährigen Besatzung war plötzlich eine Flut an Informationen verfügbar, die es den Hibakusha (Atombombenüberlebenden) ermöglichte, die Bedeutung ihres Überlebens erstmalig in einer historischen Perspektive, in einem globalen Zusammenhang zu betrachten. Uns wurde klar, dass kein Mensch auf Erden jemals wieder die unmenschliche, widerrechtliche und grausame Erfahrung der atomaren Bombardierung durchmachen sollte – unsere Aufgabe ist also, die Welt vor dieser Bedrohung dieses unvorstellbaren Übels zu warnen. Wir glauben, dass es Menschlichkeit und Atomwaffen nicht zusammen geben kann. Unsere Aufgabe ist es, Atomwaffen abzuschaffen, um eine sichere, saubere und gerechte Welt für zukünftige Generationen zu ermöglichen. In dieser Überzeugung haben wir uns in den letzten Jahrzehnten weltweit für die endgültige Abschaffung aller Atomwaffen stark gemacht.
Die aktuellen Abrüstungsdebatten bestürzen und irritieren uns und geben wenig Anlass zur Hoffnung, da sich für uns kein greifbarer Fortschritt erkennen lässt. Ganz offensichtlich fehlt den Atomwaffenstaaten der politische Wille zur Abrüstung. Das wird sowohl bei der Nichtratifizierung des Atomteststoppvertrags (CTBT) klar, als auch bei der Weigerung, sich an die Verpflichtungen zu halten, die sich aus Artikel sechs des Atomwaffensperrvertrags (NPT) ergeben – zu nennen sind hier ebenso der jetzt 15 Jahre währende Stillstand der Genfer Abrüstungskonferenz und das Scheitern der Verhandlungen über eine atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten, sowie die fortgesetzte Modernisierung der Atomwaffen. Das sind unakzeptable Zustände, an denen wir etwas ändern müssen!
Obwohl wir Hibakusha unsere Lebensenergie darauf verwendet haben, Menschen vor der Hölle des Atomkriegs zu warnen, hat es in fast 70 Jahren kaum Fortschritte in der Abrüstung gegeben. Deshalb müssen wir dringend einen neuen Weg finden – einen, der die inakzeptablen humanitären Konsequenzen von Atomwaffen aufzeigt. Wir sind moralisch verpflichtet, diese zu verbieten. Wir hoffen, dass die neue Bewegung zur Ächtung und Abschaffung dieser Waffen uns endlich eine atomwaffenfreie Welt bringt. Für die Zivilgesellschaft und für die atomwaffenfreien Staaten ist die Zeit gekommen, die Ächtung von Atomwaffen in Gang zu bringen – um der Menschheit willen.
Zusammen können wir es schaffen. Wir müssen es schaffen.
Aus dem IPPNWforum 142, 2015
zurück