Schindler: Als Hiroshima am 6. August 1945 zerstört wurde, hatten Sie da jemals von so etwas wie einer Atombombe gehört?
Sotobayashi: Nein. Das ist der große Unterschied zu heute. Heute wissen wir genau, wie gefährlich Uran und Plutonium sind. Damals wussten wir nichts. Am 6. August fiel die Bombe auf Hiroshima, am 9. auf Nagasaki, am 15. hat Japan kapituliert, danach kamen wir lange Zeit unter US-amerikanische Besatzung. Es war damals verboten, darüber zu sprechen. Wir hatten nur von einer „Bombe neuen Typs“ gehört, die im Umkreis von Kilometern alles zerstört. Aber was für eine Bombe das war, wussten wir nicht. Wir konnten auch niemanden fragen. Die Zeitungen haben auch nur von diesem „neuen Typ“ geschrieben. Und als eine internationale Delegation des Roten Kreuzes nach Hiroshima und Nagasaki wollte, hat man sie nicht reingelassen. Man hat uns nur regelmäßig Blut abgenommen, was damit gemacht wurde, welche Ergebnisse dabei herauskamen, hat man uns nicht verraten. Das war alles geheim.
Schindler: Wo waren Sie am Morgen des 6. August?
Sotobayashi: In der Schule. Zusammen mit 24 Klassenkameraden. Wir waren auf einer Eliteschule, deswegen hatten wir an dem Tag überhaupt Unterricht. Die meisten anderen Jugendlichen waren da schon längst zu Arbeitsdiensten in Kriegsfabriken abkommandiert worden. Wir durften trotz des Krieges lernen. Wir waren im ersten Stock eines Holzgebäudes, als ich plötzlich den Eindruck hatte, dass draußen jemand eine riesige Lampe eingeschaltet hat. Es war ein Blitz und fast gleichzeitig Donner. „Pika-Don“ haben wir später immer dazu gesagt. Pika heißt Blitz, Don steht im Japanischen für Donner. Mehr habe ich erst einmal nicht mitbekommen, weil ich bewusstlos wurde. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Trümmerhaufen, war erstaunlicherweise aber unverletzt.
Schindler: Waren die anderen Schüler tot?
Sotobayashi: Nein, die meisten haben überlebt. Wir hatten unglaubliches Glück. Unsere Schule lag nur etwa eineinhalb Kilometer vom Detonationszentrum entfernt, das heißt in der Theorie hätten wir zu 99 Prozent alle tot sein müssen. Die Wucht der Bombe hat sich aber in andere Richtungen ausgebreitet. Ein paar Meter weiter lag einer meiner Freunde, er war eingeklemmt. Ich habe ihn ausgegraben, er war verletzt, sein Ohr baumelte nur noch am Kopf, er konnte aber laufen.
Schindler: Wohin sind Sie gelaufen?
Sotobayashi: Wir haben versucht, nach Hause zu kommen. Aber das war nicht so einfach. Wissen Sie, Hiroshima ist wie Venedig von etlichen Flüssen und Kanälen durchzogen. Die Brücken waren aber alle aus Holz. Die waren weg. Also habe ich ein kleines Boot gesucht und meinen Freund durchs Wasser gezogen. Nachdem ich ihn in einem provisorischen Lazarett abgeliefert hatte, bin ich nach Hause gegangen und habe festgestellt, dass wir wieder Glück hatten. Unser Haus war anders als viele andere nicht abgebrannt. Mein Vater war da und hatte das Feuer löschen können. Wir sind dann losgezogen, um meine Mutter zu suchen. Das heißt, vorher mussten wir Okimasu finden, das war der Sohn von Freunden meiner Eltern, der gerade zu Besuch war. In Japan heißt es immer: der Gast zuerst. Also haben wir zunächst nach ihm gesucht. Wir wussten, wo er arbeitet. Seine Fabrik lag nur etwa 100 Meter vom Epizentrum der Bombe entfernt. Ich bin losgelaufen – und dann habe ich alles gesehen.
Schindler: Was alles?
Sotobayashi: Durch die Hitzewelle der Bombe hatte sich bei ganz vielen Menschen die Haut abgelöst und hing schwarz und verkohlt von ihren Fingern. Das war furchtbar. Ich erinnere mich an eine Mutter, die ihr totes Kind an sich presste und wie verrückt geschrien hat. Ich habe dann an einer Uferböschung einen Körper liegen sehen, von dem ich glaubte, es sei Okimasu. Um zu ihm zu gelangen, musste ich an unzähligen Leichen vorbei. Aber als ich mich durchgeschlängelt habe, habe ich gemerkt, dass das gar keine Leichen waren, sondern dass die meisten noch lebten. Manche haben meinen Fuß umklammert und gerufen: „Bitte Wasser, Wasser, Wasser!“ Andere haben nur gesagt, wer sie sind und mich gebeten, ihre Verwandten zu benachrichtigen. Aber ich konnte ja gar nichts machen. Ich bin zu dem Körper gegangen, den ich für Okimasu hielt. Er war es, aber er war tot.
Schindler: Was war mit Ihrer Mutter?
Sotobayashi: Wir haben sie später am Nachmittag in einem Krankenhaus gefunden. Sie schien äußerlich unverletzt zu sein, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Sie ist drei Tage später im Alter von 35 Jahren gestorben. Wir hatten Glück. Wir hatten sowohl unseren Gast Okimasu als auch meine Mutter gefunden. Wir konnten sie angemessen bestatten. Viele tausend andere Opfer sind bei dem Bombenabwurf innerhalb einer Sekunde verschwunden – so als hätte es sie nie gegeben.
Schindler: Konnten Sie sich erklären, wieso Ihre Mutter so plötzlich verstarb? Sie wussten ja nichts von einer Atombombe.
Sotobayashi: Nein, das war alles sehr seltsam. Wir wussten nicht, was los ist. In den Tagen nach dem Bombenabwurf haben viele Verwandte und Bekannte in unserem Haus Zuflucht gesucht. Nach wenigen Tagen sind fast allen die Haare ausgefallen, das Zahnfleisch fing an zu bluten. Bei mir auch. Ende August waren fast alle tot.
Schindler: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Opfer eines Atombomben-Abwurfs geworden waren?
Sotobayashi: So richtig habe ich es im Grunde genommen erst zehn Jahre später begriffen, als die Amerikaner auf dem Bikini-Atoll ihren nächsten atomaren Menschenversuch gestartet haben. Damals sind ja auch japanische Fischer gestorben.
Schindler: Bis dahin wurden Sie im Unklaren gelassen?
Sotobayashi: Ja. Man wollte alles so vage wie möglich belassen. Es gab natürlich medizinische Untersuchungen, aber ich hatte immer das Gefühl, es geht den Amerikanern mehr darum, die Veränderungen in unseren Körpern zu studieren, als uns wirklich zu helfen. Wir waren Teil eines großen Experiments. Bis heute hat sich dafür übrigens niemand entschuldigt.
Schindler: Wie wurde das Thema in der japanischen Öffentlichkeit diskutiert?
Sotobayashi: Lange Zeit überhaupt nicht. Auch deshalb, weil die Opfer geschwiegen haben. Sie hatten Angst. Viele Japaner denken, wer einmal radioaktiv verstrahlt wurde, strahlt sozusagen weiter. Man glaubt, von uns geht eine Gefahr aus. Man hält Abstand von uns, will uns am besten gar nicht berühren. Das war damals so. Es ist heute, nach der Katastrophe von Fukushima, wieder so. Ich habe von einer jungen Frau gehört, die aus der Unglückszone rund um Fukushima stammt und mit einem Mann aus Tokio verlobt war. Kurz vor der Hochzeit haben die Eltern des Bräutigams jedoch ihr Veto eingelegt, sie hatten Angst vor missgebildeten Enkelkindern. Also wurde die Hochzeit abgesagt. Es ist furchtbar. Aber in gewisser Weise auch verständlich. Man weiß ja nie, was mit Überlebenden passiert, die hohen Strahlendosen ausgesetzt waren.
Schindler: Sie selbst haben auch jahrzehntelang geschwiegen. Warum?
Sotobayashi: Nicht nur ich, wir alle haben unsere Erfahrungen lieber für uns behalten. Wieso hätten wir darüber sprechen sollen? Was ist der Vorteil dabei? Es gibt keine Vorteile. Außer vielleicht den, dass man den staatlichen Ausweis für Atombomben-Opfer bekommt. Darüber gibt es aber bis heute, mehr als 60 Jahre später, immer wieder Streitereien. Wer damals innerhalb einer Zwei-Kilometer-Zone um das Detonationszentrum der Bombe lebte, bekam anstandslos den Ausweis für Atombomben-Opfer. Dabei hat die Bombe in manche Richtungen aber nur einen Kilometer gewirkt, in andere Richtungen fünf Kilometer oder mehr. Menschen aus Nagasaki und Hiroshima, die viel später krank wurden, mussten erst mühsam beweisen, dass die Atombombe der Auslöser dafür war. Aber wie beweist man das, 40, 50 Jahre danach? Es ist unwürdig. Es geht für den Staat eben um viel Geld. Ich prophezeihe Ihnen: Dasselbe wird jetzt in Fukushima wieder passieren. Die Regierung hat sicher ihre Gründe, die Evakuierungszone um die Reaktoren nicht allzu groß werden zu lassen.
Schindler: Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Sotobayashi: Nun, was Atombomben betrifft, freue ich mich, dass US-Präsident Barack Obama in diesem Punkt ein bisschen auf die Bremse getreten ist. Was die Nuklearenergie betrifft, bin ich, wie gesagt, kein Fachmann. Aber ich hoffe, dass viele Menschen nun endlich begriffen haben, dass menschliche Fehler immer passieren. Japan muss jetzt lernen. Und schauen Sie sich die Endlagerfrage an.
Schindler: Es gibt auf der ganzen Welt keines.
Sotobayashi: Wenn es zu Jesus’ Zeiten schon Atomkraft gegeben hätte, würden die damaligen Brennstäbe heute noch strahlen. Wer kann das verantworten? Und wer weiß, was in hundert Millionen Jahren ist? Ich vermisse in der ganzen Diskussion immer Ethik und Moral.
Autor: Jörg Schindler
Erscheinungsdatum: 15.04.2011
Quelle: Frankfurter Rundschau
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