Wir waren zur Arbeit im 4. Reaktor eingeteilt. Die Aufgabe war, zwei Wände aus Zementblöcken aufzubauen. Unter der Decke sollte Platz für die Befestigung eines Schlauches bleiben, durch den man nach der Verhärtung des Zements Beton in den
Zwischenraum gießen konnte. Die ganze Einheit lief in das Gebäude des 4. Reaktors. Zusammen mit dem Strahlenschutztechniker lief ich nach oben. Mit einem Plan fanden wir den Raum, bei dem an einer Wand ein Durchbruch war. Ein Teil der Wand lag auf dem Boden, aber man sah, dass dort, wo die Wände hochgezogen werden sollten, der Schutt schon weggeräumt war.
Wir fingen an, die Strahlung zu messen, der Zeiger des Dosimeters schlug zur rechten Seite über die Skala aus. Der Strahlenmesstechniker schaltete das Gerät in eine andere Skalierung um, mit der sich höhere Strahlenwerte messen ließen. Der Zeiger des Gerätes schlug zunächst wieder ganz nach rechts aus, endlich aber blieb der Zeiger stehen. Wir führten die Messungen an mehreren Stellen durch, am Ende gingen wir zur gegenüberliegenden Wand und steckten unser Stativ in den Durchbruch. Der Zeiger schlug wieder über das Ende der vorhandenen Mess-skala aus. Wir gingen aus dem Gebäude raus. Unten berechneten wir annähernd den Durchschnittswert der Strahlung und kamen dabei auf 40 Röntgen pro Stunde. Wir berechneten dann die Arbeitszeit pro Gang und kamen auf drei Minuten. Das war aber nur die reine Zeit des Einsatzes. Die Zeit, um mit einem Sack Zement reinzulaufen, diesen zu platzieren und wieder rauszulaufen, setzten wir mit ca. 20 Sekunden an. Dem entsprechend musste jeder von uns zehn Mal einen Sack Zement in das Gebäude tragen, da wir achtzig Männer waren. Wir berieten uns, wie wir die Arbeit richtig auf die Menschen aufteilen könnten. Eine Gruppe sollte unten die Säcke mit Mörtel füllen, die andere Gruppe sie reintragen. Nach einer bestimmten Zeit würden wir wechseln. Der Wechsel sollte vom Ablaufprozess abhängig sein wie vom Wohlbefinden des Einzelnen. Es sollte zum Beispiel auch möglich sein, nur fünf Säcke reinzutragen, danach nach unten zu gehen und Säcke zu füllen, um erst später dann die restlichen fünf reinzutragen. Ein Arzt sollte sich oben direkt neben dem Raum mit den Säcken aufhalten. Nachdem wir so die Aufgaben verteilt hatten, schritten wir zur Tat.
Zum Vergleich, .... nein, wahrscheinlich, gibt es eine solche Arbeit, wie wir sie dort verrichteten, nirgendwo sonst. Sie ist ebenso unvergleichlich wie die Arbeitswut der Leute bei der Durchführung dieser Aufgabe. Sehr schnell schaufelten wir den Mörtel in Säcke, banden sie zu, halfen beim Schultern und los ging es nach oben. Mit der rechten Hand hielt man den Sack auf dem Rücken fest, mit der linken hielt man sich am Geländer und so ging es im Laufschritt eine Stufe nach der anderen hoch, bis wir ungefähr eine Höhe erreicht hatten, die der 8. oder 9. Etage eines normalen Wohnhauses entspricht. Die Treppenaufgänge waren hier sehr, sehr lang, und wenn man oben raus kam, sprang einem das Herz förmlich aus der Brust. Der Mörtel sickerte durch den Sack und lief am ganzen Körper runter. Als wir ankamen, legten wir die Säcke versetzt übereinander, so wie Steine beim Hausbau. Nachdem wir die Säcke hingelegt hatten, liefen wir einer nach dem anderen wieder runter. In der Gegenrichtung kamen die anderen mit ihren Säcken hochgekeucht, hielten sich am Geländer fest, und so ging es Runde um Runde.
Zu meinen Pflichten gehörte auch die Kontrolle, ob die Säcke richtig lagen. Schließlich, als die Wand langsam in die Höhe gewachsen war, musste ich oben bleiben und den Männern helfen, die Säcke so zu legen, dass die Wand nicht zusammenbricht. Der Zementmörtel hatte eine ganz dunkle Farbe, was ein Zeichen für die hohe Qualität war. Die Wand sollte in kürzester Zeit zum Monolith werden. Ich lief runter, die Menschenkette mit den Säcken kam mir schwer atmend und sich am Gelände festklammernd entgegen. Unten standen alle müde, verschwitzt, schwer atmend. Die Kleider waren durchnässt vom Zementmörtel und Schweiß. Die Schutzmasken sahen aus wie schmutzige nasse Lumpen, aber wir hatten keine neuen, um sie auszutauschen. Wir hatten fast schon betteln müssen, um überhaupt welche für die Arbeit da oben zu bekommen. Fast alle legten irgendwann die Gesichtsschutzmasken ab, weil man nicht mehr atmen konnte.
Als wir mit der Arbeit fertig waren, hatten wir keine Kraft mehr zu laufen. Wir gingen ganz müde und gleichgültig, so schnell wie wir eben noch konnten. Wir liefen die Strecke ganz ohne Schutz, die Schutzmasken waren ja schmutzig und nass, wir ließen sie in einem Sack im Reaktorgebäude liegen. Als wir unten ankamen, stand da schon der Messtechniker und kontrollierte die Strahlung, danach gingen wir duschen. Wir zogen uns um, und gingen zu unserem Sammelpunkt.
Wir standen an unserem Abfahrtspunkt, der sich zwischen dem 1. Reaktorblock und dem Verwaltungsgebäude des Werkes befand. In dem Moment habe ich zum ersten Mal im Leben erfahren, was Kopfschmerzen sein können! Alle, die schon zwei oder drei Wochen oder noch länger da waren, sagten, dass bei jedem Neuankömmling am Ende der ersten Woche sehr starke, anhaltende Kopfschmerzen losgingen, und Schwächeanfälle und ein Kratzen im Hals auftreten würden. Mir ist auch aufgefallen, dass jedes Mal, wenn wir uns dem Atomkraftwerk nährten, bzw. sobald das Werk auftauchte, in den Augen zuwenig Augenflüssigkeit war, alle begannen zu blinzeln, man hatte das Gefühl, die Augen seien vollkommen ausgetrocknet. Am Sammelpunkt stand kein Fahrzeug. Alle standen müde rum, denn hinsetzen durfte man sich nicht, überall war Radioaktivität. Manche rauchten und führten ein müdes Gespräch, man sah, dass sich die Menschen bei der schweren Arbeit verausgabt hatten. Die meisten der Jungs waren im Schnitt zwischen 20 und 35 Jahre alt. Einer war noch ganz jung, er war erst im Frühjahr aus der Armee entlassen worden und hatte erst vor einem Monat geheiratet. Ein anderer Bursche erzählte, dass sein Vater mit ihm zum Kreismilitäramt gefahren sei und dort gebeten hatte, dass sie anstelle des Sohnes ihn einberufen sollten. Sein Sohn sei doch noch so jung, er müsse doch noch eine Familie gründen und Kinder haben. Darauf hin hatte man beide eingezogen und dem Vater noch gesagt, er solle sich bloß nicht einbilden, er sei schlauer als die „da oben“.
Wir bekamen Mineralwasser und konnten unseren großen Durst stillen. Diese Tragödie, die uns alle anging, hat uns irgendwie zusammengeschweißt und uns in kürzester Zeit erwachsen werden lassen. Die Gesichter waren jung, aber die Augen waren lebenserfahren und klug. Wir hatten verstanden, welche Verantwortung auf jedem von uns lag. Im Gespräch schaute ich mir einen jungen Mann näher an. Ich kann es auch nicht erklären, warum er mir aufgefallen ist, es war nichts Besonderes an ihm, mittelgroß, ungefähr 25 Jahre. Ich fragte ihn, was er dazu meinen würde, dass wir uns hier im Kraftwerk vollkommen verausgabten und länger arbeiteten als die vorgesehene Zeit. Er sah mich mit einem bestimmten ungläubigen Gesichtsausdruck an, als ob er sagen wollte: Verstehst du das denn nicht selbst? Seine Antwort nötigte einem Respekt ab: „Wissen Sie, Herr Kommandeur, wir machen es, damit die anderen weniger abbekommen.“ Ich schaute in sein völlig übermüdetes Gesicht und nickte zustimmend. In Zeiten allgemeiner Not kommen die besten Seiten des Menschen zum Vorschein. Er wusste doch gar nicht, wer nach ihm die Arbeit weitermachen würde, sorgte sich aber trotzdem um die anderen.
Diese Burschen haben Millionen von Menschen gerettet, und haben dafür ihre Gesundheit geopfert, und in der Folge auch ihr Leben, weil sie radioaktiven Müll wegräumten, die Gebäude dekontaminiert und die Strahlung gesenkt haben. Ich wurde stolz auf diese Menschen, die versuchten, so viel wie möglich wegzuarbeiten, damit die nächsten vielleicht „weniger abbekämen“. Ich schaute mir die Jungs genau an und dachte: Nach dem Einsatz gehen sie wieder dahin, wo sie vorher gewesen waren, und keiner wird es erfahren, dass genau sie den radioaktiv verseuchten Müll weggeräumt haben, dass genau sie im Jahre 1986 die Gebäude des dritten und vierten Reaktors dekontaminiert haben und das radioaktive Erdreich vom umliegenden Gelände auf eigenen Schultern weggeschafft haben. Ob in einigen Jahren die heranwachsende Generation daran noch denken wird? Wissen wird, dass zum damaligen Zeitpunkt eben solche junge Menschen ihre eigene Zukunft gerettet haben? Dass jene die wirklichen Helden der Geschichte sind? Zum größten Bedauern vollkommen vergessen von der Regierung.
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