Atomwaffen sind nicht nur eine ständige Gefahr für das globale Überleben: Die über 2.000 Atomtests haben schon jetzt hunderttausende Opfer gefordert.
Der Großteil der Tests wurde fernab des westlichen Alltags in ehemaligen Kolonien oder in den Gebieten ethnischer Minderheiten durchgeführt, deren Einwohner*innen bis heute an den Folgen leiden und sterben. 2021 war Meitaka Kendall-Lekka, eine junge Professorin für Wirtschaftswissenschaften von den Marshallinseln, zu Gast bei uns in Hamburg, wo sie zum ersten Mal öffentlich über das Schicksal ihrer Familie und der Marshalles*innen gesprochen hat. Ein Schritt, der für sie nicht leicht war und der uns sehr bewegt hat.
Auf den Marshallinseln, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein sogenanntes US-amerikanisches „Schutzgebiet“ waren, haben die USA 67 Atomwaffentests zwischen 1946 und 1958 durchgeführt. Die Sprengkraft der Tests betrug insgesamt 108,5 Megatonnen. Das entspricht der Explosion von täglich einer Hiroshimabombe über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren – oder der 93-fachen Sprengkraft aller Atomwaffen, die die USA in Nevada getestet haben.
Die Marshallinseln wurden als Testgebiet ausgewählt, obwohl von vornherein klar war, dass die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden konnten. Diese lauteten, dass Menschen und Umwelt keiner unabsichtlichen radioaktiven Verseuchung ausgesetzt werden durften und dass Tests mit einem Mindestabstand von 150 Meilen zu Siedlungen durchgeführt werden mussten. Dazu sagte US-Admiral William Blandy: „Wir brauchen ein paar elendige Inseln, wirtschaftlich bedeutungslos ... alles was auf diesen Inseln gewonnen werden kann, sind ein paar Kokosnüsse, etwas Taro und der starke Wunsch, woanders zu leben“.
Am 1. März 1954 wurde auf dem Bikini-Atoll der größte US-Atomwaffentest der mit dem Codenamen „Castle Bravo“ durchgeführt – mit der 1300-fachen Sprengkraft der Hiroshimabombe. Trotz des Westwindes, der einen Fallout über den östlich von Bikini gelegenen Atollen bewirken würde, entschied sich das US-Militär für die Durchführung des Tests und gegen die Evakuierung der betroffenen Menschen.
Die Einwohner*innen des Bikini-Atolls waren schon vor den ersten Tests umgesiedelt worden. Die Bewohner*innen benachbarter Atolle wie Likiep jedoch wurden weder evakuiert noch über die bevorstehenden Tests und das damit verbundene Risiko informiert. Sowohl Meitaka Kendall-Lekkas Großeltern als auch die Großeltern ihres Mannes Carl Lekka erlebten als Kinder den Tag auf Likiep, an dem die Sonne zweimal aufging. Ein furchtbarer Lärm und eine starke Druck- und Hitzewelle überraschte die Menschen, die im Freien arbeiteten oder spielten. Dann begann es zu schneien. Weißer Puder regnete herab und die Kinder, die gehört hatten, dass es in anderen Regionen der Welt Schnee gibt, spielten darin. Später regnete es und das Trinkwasser färbte sich gelb.
Die Bewohner*innen von Rongelap, Ailinginae und Utirik wurden zweieinhalb Tage später evakuiert, nachdem sie fast tödliche Strahlendosen erhalten hatten. Ein zunächst geheim gehaltener Bericht der US Regierung zeigt jedoch, dass auch die anderen bewohnten Atolle der Marshallinseln gefährliche Strahlendosen erhalten hatten. Es kam zur akuten Strahlenkrankheit mit Verbrennungen, Schädigungen der Schleimhäute im Magen-Darm-Trakt, Haarausfall und einem Zusammenbruch der Immunabwehr. Das Risiko, an Krebs zu erkranken, stieg in Rongelap auf 20%.
Nach dem Bravo-Test wurden die Einwohner*innen von Rongelap und Utirik ohne Aufklärung und Einwilligung in ein geheimes Forschungsprojekt der US-Regierung eingeschlossen, in dem die Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper erforscht wurden. Gemeinsam mit Kontrollgruppen – die keiner oder weniger Strahlung ausgesetzt waren – wurden sie in die USA gebracht, wo Proben aus Blut, Knochenmark, Zähnen und Organen gewonnen wurden. Einige erhielten Injektionen mit radioaktiven Substanzen wie Chrom, Jod, Zink oder Radiokohlenstoff oder mussten sich experimenteller Chirurgie unterziehen. In einem Dokument der US-amerikanischen Atomenergiebehörde von 1956 heißt es: „Während es wahr ist, dass diese Menschen nicht so leben, wie wir zivilisierten Menschen im Westen, so ist es doch auch war, dass sie uns ähnlicher sind als Mäuse.“
Die Bewohner von Rongelap wurden 1957 zurück auf ihre Insel gebracht. Merril Eisenbud von der US-Atomenergiekommission hatte 1956 gesagt: „Diese Insel ist mit Abstand der am stärksten radioaktiv verseuchte Ort der Erde und es wird sehr interessant sein, zu messen, wie die Aufnahme von Radioaktivität ist, wenn Menschen in dieser Umgebung leben“.
Das Likiep-Atoll befindet sich etwa 300 Meilen südöstlich von Rongelap, ebenfalls in der Richtung des Fallouts der Atomwaffentests. Meitaka Kendall-Lekka berichtet von vielen Krankheiten in allen Generationen auf ihrer Insel. Vor allem Frauen waren oder sind betroffen, durch Brustkrebs oder mit Problemen bei der Schwangerschaft oder Fehlgeburten. Meitakas Großmutter hat nach einigen Fehlgeburten nur zwei lebende Babys geboren, von denen eines starb. Kinder bedeuten auf den Marshallinseln das Glück der Familien.
Die Großmutter von Carl Lekka hat einige „Quallenbabys“ (jellyfish babies) geboren, kopf- und augenlose Föten ohne Knochen und mit transparenter Haut, die in der ersten Generation der Atomtestüberlebenden nicht selten vorkamen. Auch die Cousine von Meitakas Großmutter hat Quallenbabys zur Welt gebracht. In den beiden Großfamilien sind verschiedene Formen von Krebs aufgetreten, oft Schilddrüsenkrebs. Solche Geschichten waren so häufig, dass sie schließlich zur Normalität wurden. Dennoch wurde und wird kaum oder gar nicht darüber geredet: Frauen sprachen und sprechen bis heute nicht über ihre gesundheitlichen Probleme, nicht einmal mit Nachbarinnen und Freundinnen, da es nach traditionellem Verständnis die eigene Schuld der Frauen sei, wenn es mit dem Kinderkriegen nicht klappt. Die Frauen schämen sich, und auch Meitakas Großmutter will bis heute weder über den Tag des Bravo-Tests noch über ihre Fehlgeburten sprechen.
Über all dies hatte sich Meitaka Kendall-Lekka noch keine Gedanken gemacht, als sie nach ihrem Studium auf Hawai’i an das College of the Marshall Islands berufen wurde und außerdem schwanger war. Dem Glück für die Familie schien nichts im Wege zu stehen. Bei der Schwangerschaftsuntersuchung wurde jedoch Unterleibskrebs festgestellt und die Schwangerschaft musste beendet werden.
Sie war schockiert, als sie nach ihrer Überweisung in ein Krankenhaus in Honolulu (Hawai’i) feststellen musste, dass es dort ein ganzes Stockwerk voller Krebspatient*innen von den Marshallinseln gab, von denen sie die Hälfte kannte, weil sie ebenfalls aus Likiep kamen. Bei der Chemotherapie sagten ihr die Ärzte lapidar: „This happens“, als ob das ganz normal wäre.
Erst zu diesem Zeitpunkt begann Meitaka Kendall-Lekka, sich mit der Geschichte der Atomtests auf den Marshallinseln zu beschäftigen. „No one told me anything“, klagt sie heute über ihre Kindheit und ihre Schulzeit, in der sich die Lehrpläne an denen der USA orientierten. Nachdem sie 2021 in Hamburg zum ersten Mal öffentlich über ihre eigene Geschichte und gesundheitlichen Probleme berichtet hatte, tat sie dies auch in ihrer Heimat und erhielt Resonanz von anderen krebskranken jungen Frauen, die sich bisher für ihre Krankheiten geschämt hatten.
Der neuen Generation auf den Marshallinseln, so Kendall-Lekka, seien die Probleme wesentlich mehr bewusst, die jungen Leute strebten nach Veränderungen, tun sich allerdings schon bei der eigenen älteren Generation schwer, die sich zum Teil der Realität immer noch verweigere. Die Veränderungen müssten aber über die Grenzen der Marshallinseln hinausgehen.
Lernen aus dem Leid: Die Marshallesin Lijon Eknilang erlebte den Bravo-Test an ihrem achten Geburtstag. Inzwischen ist sie an den schweren gesundheitlichen Schäden verstorben. Im Jahr 1995 hatte sie bei einer Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof über die Legalität von Atomwaffen die Marshallinseln vertreten und gesagt: „Ich weiß aus erster Hand, welche verheerenden Auswirkungen Atomwaffen auch über längere Zeit und größere Entfernungen haben und was dies für unschuldige Menschen über Generationen hinweg bedeutet. Ich bitte Sie, dringend zu tun, was in Ihrer Macht steht, um zu verhindern, dass sich die Leiden, die wir Marshallesen durchgemacht haben, in irgendeinem anderen Staat der Welt wiederholen.“
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