Die Geschichte von Ida Betke (Semipalatinsk)

Als die Sowjetunion sich 1947 für den Bau des Atomwaffentestgeländes („Polygon“) entschieden hat, wussten die Entscheidungsträger, dass die Gegend besiedelt ist. In der Nähe sind mehrere Dörfer und Städte. Die Stadt Semipalatinsk (315.000 Einwohner) liegt nur 130 km entfernt. Unter den Tests zu leiden hatte v. a. die kasachische Bevölkerung und zehntausenden Russlanddeutsche, die als Folge des Zweiten Weltkrieges in diese Sowjetrepublik verschleppt worden waren und in den Dörfern um das Polygongelände lebten.

Als wir im Jahr 1957 nach Semipalatinsk umgezogen sind, haben auf dem Semipalatinsker Atomversuchsgelände oberirdische Atombombentests statt gefunden. Von der Schädlichkeit dieser Atomtests wussten wir nichts. Wir sind nach draußen gegangen, um den aufsteigenden Pilz zu bewundern, oder sind in der Wohnung geblieben um die Schränke festzuhalten, damit das Geschirr nicht heraus fiel. Gemüse und Obst haben wir selbst angepflanzt und gegessen. Auch Fisch aus dem „Atomsee“ – einem See, der durch einen Atomtest entstanden ist – haben wir gegessen. Ein Nachbar ist oft mit einem großen Tankwagen voller Fische vom Atomsee gekommen und hat den Fisch auf der Straße verkauft – man hat ihn gerne gekauft, er war sehr groß.

In den 40 Jahren von 1949 – 1989 wurden hier 458 Atomtests durchgeführt. Bis Ende 1962 haben oberirdische Tests stattgefunden. Nach 1962 wurden die Tests unterirdisch durchgeführt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich das Land 1991 als Republik Kasachstan unabhängig. Mit Erlass vom 29. August 1991 wurde das Semipalatinsker Atombombentestgelände geschlossen. Die Republik Kasachstan hat sich für eine Atomwaffenfreie Zone entschieden. Seit 2007 heißt die Stadt Semipalatinsk „Semei“.

Trotz der Schließung des Polygons haben die anliegende Gebiete noch immer mit den Folgen zu kämpfen. Das Territorium des Semipalatinsker Atompolygon beträgt 18.000 km2, aber die radioaktiv verseuchte Fläche beträgt mindestens 304.000 km2.

Die Gesundheit fast aller Menschen, die in der Nähe des Polygons gewohnt haben, wurde irreparabel geschädigt. Die radioaktive Belastung hat zur dramatischen Schwächung des Immunsystems geführt. In der Region findet sich eine Steigerung der Zahl und Arten von verschiedenen onkologischen Erkrankungen, Erkrankungen des Blutes und der Atmwege, des endokrinen Systems, Immundefiziten und auch psychischen Erkrankungen. Verläufe und Dauer der Erkrankungen sind erschreckend. Missbildungen bei Menschen und Tieren waren häufig, die Zahl mit körperlichen und geistigen Behinderungen geborener Kinder hoch.

Von den Atomversuchen in Kasachstan sind mehr als 1,5 Millionen Menschen betroffen, heute leben von den damals geschädigten nur noch ca. 300.000 Menschen. Der männliche Teil dieses Kontingents ist auf ein Drittel geschrumpft, was fast zu einer nationalen Tragödie wurde, weil man bei so einem Unterschied zwischen der Zahl der männlichen und weiblichen Bevölkerung, nicht von einer gesunden demographischen Entwicklung sprechen kann. Das zweite Problem betrifft junge Männer im Wehrdienstalter: Wegen körperlicher Probleme bestehen 75-80 % dieser jungen Männer die Einberufungskommission nicht. Wer aber nicht beim Militär war kriegt keine Arbeit.

Kasachische und japanische Ärzte haben im Jahr 2008 in Untersuchungen nachgewiesen, dass die Bevölkerung der Stadt Semipalatinsk und der anliegenden Rayons im Schnitt 500 Millisievert Strahlung abgebekommen hat. Die Zahl der Krebserkrankungen ist 25-30 Mal höher als im restlichen Kasachstan. Die Ärzte der beiden Staaten haben ähnliche Symptome dauerhafter psychischer Folgen bei den Opfern des Semipalatinsker Polygons und den Opfern von Hiroshima und Nagasaki festgestellt: nächtliche Alpträume, Depressionen, Gereiztheit und Nervosität. Enorm hoch ist die Selbstmord­rate in Gebieten in der Nähe des Atomtestsgeländes (1,8 – 2,5-fach höher als in der gesamten Republik Kasachstan). Eine Expertenkommission von Psychiatern aus Alma-Ata, Moskau und Semipalatinsk stellte schon 1988 eine wesentliche Zunahme von psychischen Erkrankungen bei den Einwohnern des Gebietes Semipalatinsk fest: von 1970 bis 1988 um 48,4 %. Die Anzahl an Menschen mit geistiger Behinderung lag hier um fünfmal höher als in anderen Teilen der damaligen UdSSR.

Die medizinische Versorgung in der Region ist relativ schlecht. In Semei gibt es ein Diagnostisches Zentrum. Wenn man eine Polygonbescheinigung und eine Überweisung vom Hausarzt hat, kann man sich dort einmal im Jahr untersuchen und behandeln lassen. Nicht alle wissen, dass es diese Einrichtung gibt und es ist sehr schwer einen Behandlungstermin zu kriegen. Die medizinische Versorgung in den Dörfern um das Polygongelände ist noch schlechter. Die Menschen müssen 25-40 km fahren, um in ein Krankenhaus zu kommen.

Am 18. Dezember 1992 hat die Republik Kasachstan ein Gesetz erlassen zur Unterstützung der Bürger, die durch die Atomtests geschädigt wurden. Wegen der Wirtschaftskrise in den 90er Jahren, wurde die Umsetzung dieses Gesetzes teilweise ausgesetzt. Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung in Kasachstan in den letzten Jahre ein enormes Wachstum zu verzeichnen hat, ist das Gesetz noch immer nicht voll umgesetzt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war in Kasachstan die Wirtschaft zusammengebrochen. Fast alle Betriebe in Semipalatinsk schlossen. Zurzeit kommt die Wirtschaft langsam wieder in Gang. In der Stadt gibt es sehr viele Geschäfte und Märkte. Wenn es keine Arbeit gibt, versuchen die Menschen mit Handel zu überleben. Viele Einwohner haben kleine private Geschäfte gegründet. Es gibt viele Schrottsammler und manche Einwohner verkaufen Obst und Gemüse aus ihren Gärten und Datschen.
Das ehemalige Atomwaffentestgelände ist heute noch Sperrgebiet, jedoch ist es praktisch für jedermann zugänglich. Teilweise wird das Gebiet heute auch zur Viehhaltung und Weidewirtschaft genutzt. Außerdem liegen dort noch viel Schrott und Kabel mit Buntmetallen herum. Der Schrott ist auch nach 23 Jahren noch radioaktiv verseucht. Die Menschen sammeln den Schrott, bringen ihn nach Hause oder in ihre Scheunen, um ihn später zu verkaufen. Beim Ausbuddeln von Schrott und Kabeln werden Radionuklide freigesetzt, die sich mit Wind verbreiten und eingeatmet werden. Aber aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage, nutzt die einheimische Bevölkerung dennoch jede Möglichkeit, um etwas zu verdienen.

Derzeit wird überlegt, das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk wieder abzuriegeln oder wenigstens die gefährlichen Zonen für die Bevölkerung zu sperren. Eine späte Schutzmaßnahme, die das Leid der unzähligen Atomtestopfer kaum mehr lindern wird.

Es wird viel über Tschernobyl gesprochen, aber nur wenige Menschen kennen die traurige Geschichte von Semipalatinsk. Tschernobyl war ein einmaliges Unglück – in Semipalatinsk wurden 40 Jahre lang Atombomben getestet. Die Menschen leiden darunter bis heute.

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